Neben der Idee, in 2022 nur ein Ultracycling-Rennen mit der „Mittelgebirge Classique“ zu fahren, um gewissermaßen ein „Zwischenjahr“ einzulegen, war es mein erklärter Plan sich dieses Jahr einerseits auf noch unbekannte Pfade zu begeben (ich war zwar schon mit und ohne Rad mehrfach in Tschechien, aber noch nicht allein auch mal derart abseits „in the middle of nowhere“) bzw. andererseits mindestens in ein Land zu fahren, wo man noch nicht mal ansatzweise einen Brocken der Sprache beherrscht. Denn Tschechisch hat sowohl mit meiner deutschen Muttersprache als auch mit Französisch oder Englisch (die ich beide äußerst leidlich beherrsche) wie auch mit Flämisch oder Italienisch (bei denen es zu verstehen und immerhin ganz einfacher Basiskommunikation reicht) so rein gar keine Verwandtschaft.
1000 km auf dem Rad im Brevet-Modus bedeuten, dass man für eine Homologation bzw. ein erfolgreiches Finish „egal wie“ – aber in jedem Fall ausschließlich mit eigener Muskelkraft – nach maximal 75 Stunden im Ziel sein muss. Das „egal wie“ sollte man nicht ganz so locker nehmen, wie es klingt, denn wie die Jungs bei „ARA München“ schreiben, gilt natürlich:
„Wir betreiben den Randonneurssport gemäß den Regeln des BRM und legen Wert auf Autonomie und Eigenverantwortung bei unseren Brevets. Daher sind Begleitfahrzeuge strikt verboten und führen zur Nicht-Homologation, auch beim 1000er. Für Verpflegungs- und Übernachtungsmöglichkeiten hat jeder Teilnehmer selbst zu sorgen.“
Wenn man es auf den Punkt bringen will, wir sprechen hier von einem 1000er auf dem Rad – und egal was man vorher schon mal gefahren ist – es gilt das, was ich Vinzenz Mai am Vorabend des Startes geschrieben hatte:
„Das ist ein 1000er und bei allem oberhalb 300 wird es immer, für jeden, eine Menge Holz. Das Terrain ist aber quasi Ostfrankreich an anderer Stelle des Kontinents, also keine „Climbers Challenge“ wie zB die „Mittelgebirge Classique“ oder auch die Superrandonnée „Belchen Satt“. Und da Abwechslung das Salz in der Suppe ist: Ich freu mich drauf.“
Wie Recht im Allgemeinen und Unrecht im Besonderen ich haben sollte, würde sich erst später zeigen…
Nach einer eher unentspannten Anreise mit Zügen am Rande der Kapazität wie auch verpasstem Anschluss in Würzburg im Stil der neumodischen Erscheinung „Neun-Euro-Tours“ kam ich doch noch zu einer vernünftigen Zeit in München an, was es erlaubte, die Startunterlagen vor Check-In ins Hotel schon am Vorabend des Starts abzuholen. Mit dem Rad zum Hotel, Essen, Schlafen, mit dem Rad zurück zum Bahnhof, dort den Reise-Rucksack mit den Zivilklamotten ins Schließfach packen und dann entspannt zum Vorstart rollen.
Dort angekommen traf ich dann sowohl auf die anderen Teilnehmer wie auch Brian Lautenschläger und Tino Knauth – beides erfahrene Langstrecken-Veterane. Man kennt sich, schätzt sich und so kommt nun der fast schon schönste Teil der Veranstaltung beim gemeinsamen Frühstück im „3 Mills“, wo man Zeit hat, sich bei aller Vorspannung doch ein letztes Mal noch gemütlich auszutauschen.
Eher ungewöhnlich für einen 1000er ging es dann Punkt 08:00 Uhr morgens vom Roecklplatz aus auf die Reise. Die ersten 300 km bis Linz auf sehr guten Straßen mit Rückenwind und klassischem Rouleur-Terrain (also nicht „flach“ wie vom Veranstalter angegeben, sondern durchaus kupiert) waren wie gemacht für mich. So war es auf dem Weg zur ersten Kontrolle in Ried (A) nicht verwunderlich, dass unsere Gruppe immer kleiner wurde – zuerst noch zu viert mit Carsten, Jörg und Leonard. Letzterer musste dann irgendwann in den letzten beiden Wellen vor Ried auch ob seiner „Vorbelastung“ in den Pyrenäen etwas gemäßigter weiterfahren. Zu dritt schlugen wir nach gut 200 km und faktisch ohne Pause in Ried an der ersten Kontrolle auf, mit einem Schnitt weit über der markanten 30 km/h.
Nach kurzem Auftanken ging es weiter nach Linz, genieselt hatte es schon die ganze Zeit, jetzt fing es für ein paar Meter etwa stärker zu regnen an, es hörte aber gerade in dem Moment auf, als wir einen Gedanken daran verschwendeten, ob es nicht sinnvoll sein könnte, die Regenjacke anzuziehen. In der letzten Rampe vor der Abfahrt ins Donautal und Kurs auf Linz (Kontrolle 2) nehmend, beschlich mich schon das Gefühl, dass die Pace vorneraus für mich etwas Zuviel des Guten war.
Ich sollte Recht behalten: Die Übernahme von Führungsarbeit schon im Flachen bis Linz fiel mir zunehmend schwerer und nach der zweiten Kontrolle und ausgiebigem Abendessen war berghoch auf dem Weg ins Mühlviertel (es sind hier bis zur österreichisch-tschechischen Grenze allein auf dem längsten zusammenhängenden Anstieg gut 500 Höhenmeter zu bewältigen) recht schnell der Ofen aus und ich ließ meine Begleiter Carsten und Jörg ziehen um in einem gleichmäßigen, etwas langsameren Tempo die Reise fortzusetzen.
Über mehrere kurze, giftige Rampen kam ich dann beim letzten Tageslicht in Deutsch-Hörschlag an, zugleich der letzte Ort in Österreich und schon hier war man mittlerweile in einer Einsamkeit unterwegs, dass der Ausdruck „wo sich Hase und Igel Gute Nacht sagen“ voll zutreffend war – auch ohne dass mir ein ganzes Hasenrudel auf dem asphaltfreien, mit unangenehmen Schotter-Querrinnen gespickten Weg zur Grenze nach Český Heršlák (deutsch: Böhmisch Hörschlag) begegnet wäre.
Mit Blick in meine Fahrtrichtung nach Norden weiter nach Tschechien hinein wurde meine Stimmung schlechter: Es hatte in der Dämmerung doch massiv zugezogen und in Rožmitál na Šumavě (deutsch: Rosenthal im Böhmerwald) kam es zum ersten Mal richtig nass von oben herunter. Ich erspähte in der Dorfmitte einen abgestellten Reisebus – und die Intention war richtig: Wo ein Bus parkt, ist auch ein Bushäuschen. Also dort rein, Regenjacke an und während ich das dickste der kleinen Front abwartete, schloss Marcus von hinten zu mir auf.
Auf den unübersichtlichen, schmalen, kleinen, schlechten und mit einigen heftigen Rampen (mit Spitzen knapp unter den 20%) gesalzenen Sträßchen – weitestgehend auch noch durch dichten Wald – machten wir bis kurz vor
Český Krumlov
(sollte man mit Zeit mal unbedingt besuchen!) gemeinsame Sache. Trotz der notwendigen hohen Aufmerksamkeit und einigen Wildwechseln, einer auch nicht ungefährlich unmittelbar vor uns, hatten wir hier wie auch danach in der Kontrolle in
České Budějovice / Budweis
genug Zeit, um zusammen zu quatschen und ein paar angenehme Kilometer im Duo hinter uns zu bringen.
Nach dem Verpflegen in der dritten Kontrolle in Budweis, war es mit „angenehm“ dann aber vorbei. Die große Regenfront (auf dem Radar sah sie noch recht harmlos aus), ging nun mitten in der Nacht „all-in“. In
Hluboká nad Vltavou
(lohnt auch einen Besuch!) kurz unterhalb Budweis war ich trotz aller Regenbekleidung schon komplett regendurchnässt. Da ich bis dahin extrem gut unterwegs war – bis Budweis hatte ich für gut 400 km keine 16 Stunden brutto gebraucht – fuhr ich in dem Regenwetter, gegen das ich generell ja keine Abneigung hege, noch zwei Stunden bis zu einem EC-Hotel in
Protivín
weiter, bis ich einsah, dass eine Fortsetzung so wenig Sinn machte. Die Videos auf
Instagram
geben meine Stimmung wie die „Lage“ anschaulich wieder.
So eine Nacht mit derart üblen Bedingungen war mir seit dem Ventoux-Brevet 2018 auf dem Weg von Freiburg nach Nyons jedenfalls nicht mehr untergekommen. Als es langsam nachließ, begann es auch schon zu dämmern und der Weg zur vierten Kontrolle in Blatna war mit Astwerk, Blättern und vor allem Blüten übersät – man hätte meinen können, letztere hätte jemand ausgestreut, um etwas gut zu machen…
Hinter Blatna folgt dann zuerst ein elend langer Kaugummihügel bis Nové Mitrovice, hier hatte die Nässe auch von unten aufgehört und es war an der Zeit, die durch die Regenfahrt komplett ausgewaschene Kette zu pflegen bzw. zu ölen. Denn es gibt für mich nichts schlimmeres als ein Rad, dessen Antrieb Geräusche macht. Auf den nachfolgenden Metern bis
Plzeň
– tendenziell bergab aber immer unrhythmisch mit steilen Rampen durchsetzt – standen dann (endlich möchte man sagen!) wieder breitere Straßen mit besserem Belag auf dem Programm. Es ist bekannt, dass in Tschechien wie auch sonst in Osteuropa (zumindest soweit ich das beurteilen kann in Polen, der Slowakei, in Ungarn, in Slowenien und in Kroatien) recht zügig-brutal, auf eine gewisse Art „konsequent“ Auto gefahren wird. Das war auf den belebteren, da größeren Straßen nun auch festzustellen.
Aber!
Die Tschechen pflegen dabei einen anderen, nämlich weit partnerschaftlicheren Umgang miteinander auf der Straße. Ich kann mich nur an zwei Fälle erinnern, bei denen auf den vielen Kilometern bei unseren Nachbarn rücksichtslos bei Gegenverkehr überholt wurde. In der Regel wird – auch vor Kurven – aus hoher Geschwindigkeit scharf hinter einem abgebremst und dann, wenn frei ist, in weitem Bogen überholt. Da ich, sobald ich eine (enge) Kurve überblicke (insbesondere bergauf), Autofahrern immer ein Zeichen gebe, dass die Bahn frei ist, setzen die Tschechen natürlich auch dann schon mal vorab zum Überholen an. Eine übergroße Mehrzahl (die LKW-Fahrer durchgängig) bedanken sich beim Wiedereinscheren mit Warnblinkanlage. Bis so ein Miteinander und positives Verhalten im Straßenverkehr in Deutschland festzustellen ist, kann man sicherlich warten, bis die Hölle zufriert…
Dass es nach der fünften Kontrolle in Plzeň bei KM 550 und dem tiefsten Punkt der Strecke zur Sache gehen würde, war klar: Bis
Karlovy Vary / Karlsbad
würde eine große Zahl von Steigungen warten – alle nicht übermäßig lang, aber immer wieder mit steileren Rampen durchsetzt, zudem bis zur kurzen Abfahrt nach Karlsbad alles bei Gesamttendenz „bergauf“. Der geneigte, hartschlägige Langstreckenradfahrer (zumindest die männlichen, der weibliche Teil weiß sich in der Regel kultivierter auszudrücken) beschreibt das kurz und prägnant mit dem Begriff „Hügelgeficke“.
Trotzdem unterließ ich es wider besseres Wissen, weil es appetitfrei einfach nicht ging, ausreichend zu essen. Ein grober Fehler, aber der Situation geschuldet. Viele Kilometer mit Ausnahme der Passage von
Manětín
(der „Barockperle Westböhmens“ – mega!) obendrein dann noch auf Straßen, deren Zustand diese Bezeichnung kaum verdiente.
Angeblich wurde dieser Abschnitt des 1000ers ja „mit besseren Straßen entschärft“… Ich will mir gar nicht vorstellen, wo der Track früher entlang ging. Fakt: Bevor man über solche Äcker fährt, nehme ich lieber 100 km ne Waldautobahn. Dort rollt es bedeutend besser.
Zum Glück gab es in Toužim, wo ich im übertragenen Sinne „auf der Felge“ einrollte eine kleine, wenn auch schlecht sortierte Tanke. Aber: Auch schlecht sortierte Tankstellen haben zumindest immer gesalzene Nüsse und irgendeine Zuckerbrühe im Angebot. So auch hier. Beides ohne Begeisterung in den Körper hinein und mal ne gute halbe Stunde Schlaf auf dem Marktplatz in der mittlerweile etwas häufiger zu sehenden Sonne gaben die notwendigen Körner, um den Weg nach Karlsbad zur sechsten Kontrolle halbwegs manierlich zu Ende zu bringen. Straßen „mit-ohne“ Belag inklusive.
Kommt man aus einem solchen „Outback“, ist der Kontrast zu einer unter „normalen Umständen“ ähnlich wie Baden-Baden sehr russisch geprägten Stadt mit ihrem Prunk aus Zeiten der K.u.K.-Monarchie immer äußerst krass.
Alle Objektivität hinten angestellt würde ich bei Karlsbad aber eher zum Attribut „Protz“ wie „Prunk“ greifen, woran man meine geringe subjektive Begeisterung für den Ort erkennen mag – vielleicht lag das auch an dem sehr harzig-unfreundlichen Service in der Tankstelle dort wo die Kontrolle zu absolvieren war. Ich kann eben kein tschechisch, aber wenn sich jemand bemüht und sich zumindest mit Basisvokabular verständlich zu machen versucht (bevor sie/er es dann mit Englisch probiert), habe ich an anderen Stellen noch nie so etwas erlebt – insofern, wer nach Karlsbad möchte, sollte zumindest diese Übersicht (wie ich auch) verinnerlichen:
Hallo - ahoj
Bitte - prosím
Danke - děkuji
Entschuldigung - promiňte
Ja - ano
Nein - ne
Stempel - razítko
Toilette - toaleta
Wasser - voda
Bier - pivo
Nochmals zum Veranschaulichen: Wer den Umgangston in Berlin als „grob“ bezeichnet, war noch nicht in dieser Tankstelle in Karlsbad. Denn es gibt bei „grob“ eben auch die Nuancen „grob-freundlich“ oder „grob-ehrlich“. Und damit lässt sich’s locker umgehen…
Nunja.
Es ging nachfolgend schon Richtung zweiten Sonnenuntergang auf dem letzten Abschnitt in Tschechien um via
Loket
(tolle Burg!),
Mariánské Lázně / Marienbad
(mega für die Fans von morbid-prächtigem k.u.k.-Charme) und Tachov zur siebten Kontrolle in Svatá Kateřina zu kommen. Der mittellange, rollende Anstieg hinter Loket (wenn auch etwas steiler-kupiert oben raus) wie die unerwartet gut asphaltierte Abfahrt nach Marienbad liefen erfreulich gut, ebenso wie der folgende flache Transfer bis Tachov. Dahinter mehrere derbe Rampen jeweils aus den Ortschaften zogen erheblich Körner, am letzten Helling hoch in Richtung Hoštka wurde es dann endgültig dunkel, die zweite Nacht begann.
Ich hatte mich bei Einfahrt in den Ort gedanklich schon mit dem Thema „Was wäre das Sinnvollste in Sachen Essen gleich bei der Kontrolle nach der Abfahrt vom höchsten Punkt am Ortsausgang?“ beschäftigt, allerdings etwas zu früh wie sich gleich zeigen sollte: Vom letzten Haus des Ortes auf der rechten Straßenseite aus kamen plötzlich zwei große Hunde (es hatte schon vorher etwas geraschelt, aber kein Bellen) herausgeschossen und attackierten mich von rechts-seitlich bzw. hinten-links. Trotz dem zum Glück schon recht groß geketteten Gang und meiner Power war es sehr sehr knapp. Den Hund von „hinten-links“ konnte ich erst am Ortsschild nach gut 100 Metern abschütteln. Einmal mehr eine krasse Erfahrung in Sachen „Hunde“, wie ich sie 2017 in der Champagne beim alten „
Saar-600er“ schon einmal ähnlich machen durfte…
Mit einem gewaltigen Adrenalinschub ging es also in die siebte Kontrolle, zur Stärkung eine als Gulaschsuppe ausgezeichnete Kuttelsuppe. Aber nach gut 725 km ist Dir kulinarisch eh alles egal. Hauptsache was Warmes und Salziges bevor es in die Nacht geht.
Wieder in Deutschland angekommen beschloss ich bei aufkommender Müdigkeit möglichst bis Oberviechtach zu fahren, um mir dort einen Kurz-Schlafplatz zu suchen, bevor es deutlich profilierter werden sollte. Das gelang auch – die dortige Sparkasse wird gerade umgebaut und so blieb mir ein großer, beheizter Baucontainer, worin sich übergangsweise der Geldautomat befand, als perfekte Unterkunft.
Schon hier war mir, als ich zum Napping die Schuhe ausgezogen hatte, klar, dass der Zustand meiner Füße später noch Ärger bereiten könnte, denn durch die Regenfahrt in der ersten Nacht waren meine Fußsohlen derart aufgeweicht und zum Teil gerissen, dass noch Unangenehmeres zu befürchten war.
Eine knappe Stunde vor Sonnenaufgang ging es dann weiter in die wiederum zahllosen Wellen-Anstiege-Rampen (zwei echt giftige darunter mit „15% plus“ jeweils) vor Regensburg (Kontrolle 8) – ein wunderschöner Sonnenaufgang inklusive.
Bis hierhin hatte ich nach meiner „Konsolidierungsphase“ hinter Linz, wo ich dem hohen Anfangstempo Tribut zollen musste, akzeptabel Druck auf dem Pedal. Auf den 30 Kilometern bis Kelheim ging die Leistungsfähigkeit mit steigenden Temperaturen aber sukzessive zurück, der Anstieg von Kelheim über einen echt bescheiden geführten Radweg mit Gravel im Steilstück war eine Qual. Und: Die Füße meldeten sich mehr oder weniger von einer auf die andere Sekunde mit heftigsten Schmerzen an den Sohlen.
Aber es waren ja nur noch schwache 150 km bis ins Ziel. Also auf die Zähne beißen und im Kopf ignorieren, dass bis Weihenstephan (Kontrolle 9) nochmals ein „Hügelgeficke“ vom Allerfeinsten wie bereits zwischen Plzeň und Karlovy Vary auf dem Programm stand, wenn auch auf guten Straßenbelägen.
Um es kurz zu machen: Da niemand erwarten kann, diese langen Distanzen durchgehend „wie geschnitten Brot“ abzufrühstücken muss man Schmerzen, Wetter und andere Unannehmlichkeiten einfach niederringen – solange man sich nicht der Gefahr von größeren gesundheitlichen Schäden früher oder später aussetzt.
Dennoch war ich natürlich froh, gefühlt „irgendwann“ nach den ganzen Hügeln und endlosen Hopfenfeldern endlich in Weihenstephan bei der neunten Kontrolle einzutreffen. Mit gut zwei Stunden für knapp 50 Kilometer Restdistanz in der Hand – bei allen Fußschmerzen und der voraussehbar problematischen Einfahrt nach München mit vielen Ampeln und der Passage des „Englischen Gartens“ – waren das gute Aussichten, um noch unter 60 Stunden anzukommen.
Auch ein Großevent von Mercedes-Benz am Odeonsplatz, die den ganzen Bereich großflächig abgesperrt hatten und meine schnell improvisierte Umfahrung kreuz-quer durch den Hofgarten mit der dort am Samstagabend chillenden Großstadtgesellschaft als „Bremse“ konnte das erfolgreiche Unterbieten der 60-Stunden-Marke dann nicht mehr verhindern.
Fazit – lessons learned:
- Es wäre cleverer gewesen, zu Beginn etwas langsamer an die Sache heranzugehen. Mit Blick auf den Leistungsmesser habe ich sicher nicht überzogen, allerdings hat mir der Körper nach 300 km beim ersten langen Anstieg doch in Erinnerung gerufen, was er seit Ende Mai / Anfang Juni alles leisten durfte: „Mittelgebirge Classique“ (1100 km / 24000 Hm), Jura-Brevet (615 km / 6500 Hm), nächtliche Geburtstagsfahrt zum Donon-Tempel (300 km / 3700 Hm) und die Superrandonnée „Belchen Satt“ (620 km / 13000 Hm) … das hinterlässt Spuren und das hätte ich mehr in meine Taktik bzw. Herangehensweise einbeziehen müssen.
- Radwege sind autofrei und damit zuerst mal vermeintlich ein sicherer Ort für uns Radfahrer. Sieht man das unsichere, aber zügige Fahrverhalten mancher eBiker (ein Graus vor Linz!) wie sie einem an Engstellen entgegenkommen, bleiben nur noch Rettungsaktionen mit Rutschen über beide Felgen, damit es nicht zum Zusammenstoß kommt. Sowas braucht man nicht...
- Selbst als Belgien-Fan habe ich so viele schlechte Straßen auf so kleinem Raum nicht mal in der Wallonie rund um Charleroi / Mons / Tournai (wo es besonders schlimm ist) gesehen. Das ist das eine. Werden diese schlechten Straßen (die weitgehend auch ohne Leitpfosten und/oder seitliche weiße Streifen nachts ein großes Plus an Konzentration fordern!) dann trotz vorhandener, z.T. sichtbarer Alternative, auch noch gezielt eingebaut, geht es doch Richtung absurd bis sinnlos. Ohne Ablassen von Luft unterwegs (ich bin die 32er-STR-Contis dann letztlich bis es vom Belag her wieder besser wurde, mit dem Roubaix-Reifendruck 2021 von Heinrich Haussler gefahren, also deutlich unter 3 bar) und erneutem Aufpumpen an der tschechisch-deutschen Grenze wäre es eine noch größere Qual gewesen. Auf den Punkt gesprochen: Bergauf bekommt man bei derart schlechtem Untergrund die eigenen PS nicht auf die Straße, bergab gibt es wiederum keine Erholung. Oder anders gesagt: Auch mal entspannt rollen lassen bzw. hochkurbeln geht nicht, um die Mega-Landschaft zu genießen. Daher: Tschechien bzw. dieses Dreiländereck sicher sehr sehr gerne wieder – dieses Brevet auf diesem Track hat für mich aber keine große Wiederholungsgefahr.
Ich weiß, der letzte Punkt ist ein hartes (vorläufiges?) Urteil, vielleicht auch begünstigt durch den Kontrast zwischen den gut zu fahrenden ersten 300 km und den sehr schweren folgenden gut 350 km, auf denen man schon grundsätzlich über die Hälfte der Gesamthöhenmeter zu bringen hat. Dass in weiten Teilen dieses Abschnitts Dunkelheit, Nässe, Gegenwind, Straßenbelag bzw. Trackführung das Ganze im Speziellen zusätzlich unerbaulich gestaltet haben, macht ein „milderes Fazit“ nicht einfacher.
Im Gegenteil.
Was ich unterwegs an Landschaft wie Orten und Kultur gesehen habe, hat mir gefallen und war die Mühen wert. Aber eine tiefere Inspiration (bisher) leider Fehlanzeige. In diesem Sinne kann man nur mit Brecht festhalten:
„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Für alle Freunde der #FactsAndFigures - alle Daten zu meinem Brevet findet ihr en detail bei
STRAVA